Au revoir Mlle Read On

Viele Dinge sind in den letzten Wochen gesagt worden über Fräulein Readon Marie Sophie Hingst. Tatsachen und Vermutungen, Verständnis und Verdammung. Gelesen habe ich alles, gesagt habe ich nichts, gedacht habe ich manches.

Ich habe ihren Blog gelesen und gemocht. Ich habe ihre Artikel nie hinterfragt, warum hätte ich das auch tun sollen? Ich habe auf Twitter hin und wieder einen Satz mit ihr gewechselt, ich kannte sie nicht persönlich und habe nie von Angesicht zu Angesicht mit ihr gesprochen. Trotzdem trifft mich ihr Tod, als hätte ich sie gekannt. Oder vielleicht ist es die Art, wie es geschehen ist und wie sinnlos das war.

Es wurde viel geredet über Moral und Ethik. Vor allem über die von Fräulein Readon. Darf man sowas? Kann man doch nicht machen sowas! Und ganz plötzlich lag jedes geschriebene Wort von ihr auf der Goldwaage. Hat es den Tierarzt jemals gegeben? Und das Kälbchen? Das Dorf in Irland? Irland überhaupt? Ganz ehrlich muß ich sagen, daß mir das völlig egal war. Ich fand ihre Geschichten hübsch und wunderbar aufgeschrieben. Das ist mein persönlicher Geschmack, der muß anderen ja nicht gefallen und ein Blog hat für mich erst mal einen Unterhaltungswert und keinen unbedingten Wahrheitsanspruch.
Über die Betrugsvorwürfe an Yad Vashem habe ich nichts zu sagen, denn ein Urteil darüber steht mir nicht zu. Ich bin keinen einzigen Schritt in ihren Schuhen gelaufen.

Was mich jetzt zu Moral und Ethik der Presse, insbesondere von Martin Doerry vom Spiegel, bringt. Wenn ein Journalist Kenntnis von einer Story erhält, noch dazu einer mit einer gewissen Brisanz, wird er ihr nachgehen. Selbstverständlich. Und er wird sie auch veröffentlichen, wenn ein großes öffentliches Interesse besteht, davon lebt er schliesslich. Aber auf welche Weise er das tut, bleibt ihm überlassen. Man kann einen Menschen natürlich ins Rampenlicht zerren und den Wölfen zum Fraß vorwerfen, auch wenn man den leisen Verdacht hat, dieser Mensch ist vielleicht psychisch nicht so stabil, sich abwenden und die nächste Story schreiben. Bild-Zeitungs-Niveau eben. Wie weit geht journalistische Verantwortung? Darf man jemanden unter Vorspiegelung falscher Interessen (angeblich ging es um ein Buch-Interview) so in eine Falle laufen lassen und dann seelenruhig zusehen, wie ein dadurch ausgelöster Shitstorm einen Menschen zerstört? Und den hat es gegeben. Von wüsten Beschimpfungen bis hin zu eben Selbstmordbefehlen, manche halbherzig verklausuliert, manche ganz offen. Ich muß niemandem, der sich innerhalb Social Media bewegt, etwas über die dort herrschende „Kommentarkultur“ erzählen.
Was machen solche Menschen jetzt? Menschen, die sich entweder so erhaben fühlen oder so bösartig sind, einen anderen zum Selbstmord aufzufordern – und genau das geschieht dann. Was tun die? Gratulieren die sich jetzt? Oder halten sie doch eine Sekunde inne und denken „Oh shit, das hätte ich vielleicht doch nicht sagen sollen?!“.
Inzwischen werden Stimmen laut, der Journalist Doerry habe keine Schuld sondern nur seinen Job gemacht, und wenn man jetzt ihn zum Ziel eines Shitstorms mache, wäre das nicht besser als das, was mit Marie Sophie passiert ist. Schuld ist ein starkes Wort. Aber eine Mitverantwortung besteht durchaus. Auch bei denen, die mit ihren Kommentaren noch auf sie eintraten, als sie längst am Boden lag.

Auf Wiedersehen Marie Sophie.

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