Gedanken über Stuttgart

Vor einigen Jahren war ich im Sommer mal in Stuttgart. Ich habe die Staatsgalerie besucht, bin mit einem Freund durch die Stadt spaziert und essen gegangen (u.a. im Turm des Bahnhofs) und fand die Stadt alles in allem sehr hübsch, auch den Schloßpark.
Diese Einleitung soll klarmachen, ich bin keine Stuttgarterin und bis vor ein paar Tagen habe ich auch die Sache mit dem Stuttgarter Bahnhof nur oberflächlich verfolgt. Okay, die wollen den alten Bahnhof abreissen und was mordernes hinstellen. Dafür müssen einige Bäume weg und dagegen demonstrieren halt ein paar Baum-Ökos. Alles schon mal dagewesen und nichts weltbewegendes. Dachte ich.
Inzwischen weiß ich:
Der Bahnhof war (ist) denkmalgeschützt.
Die Bäume waren fast dreihundert Jahre alt und ein Geschenk des Königs von Baden-Württemberg.
Das Projekt S21 wird schon seit 10 Jahren geplant.

Seit Donnerstag nachmittag saß ich bis Freitag morgen fast ohne Pause am Rechner, recherchierte, las Meldungen, sah mir Berichte und Fotos an, verfolgte die Twitter-Timeline zum Hashtag #s21. Letzteres war fast unmöglich, im Sekundentakt überschlugen sich die Tweets.
Was genau in Stuttgart passiert ist, muß ich hier nicht noch einmal beschreiben. Ich glaube, es gibt kaum noch einen Menschen in diesen Tagen, der das nicht weiß. Ich denke mehr über das „warum“ nach. Und was es aussagt über unser Land, unser Politik(er)verständnis und über das, was man glauben darf und was nicht.

Zuerst einmal habe ich schnell bemerkt, so wunderbar Twitter als schnelles Verbreitungsmedium ist, so einfach ist es auch, gezielt Falschinformationen zu streuen. Es gibt einige Accounts, bei denen das sehr schnell klar wurde, also: nicht sofort alles glauben, eine gesicherte Stellungnahme abwarten! (Zum Beispiel über den Tod eines Demonstranten: erst war es ein 14jähriger Junge, dann ein Mädchen, dann eine ältere Frau.) Es nutzt wirklich niemandem, diese aufgeputschte Situation mit gezielten Hetzmeldungen noch mehr aufzuheizen. Das Gleiche gilt übrigens auch dafür, die Stuttgarter Vorfälle mit dem Platz des Himmlischen Friedens oder Guantanamo gleichzusetzen. Das ist einfach nicht korrekt, auch wenn es schlimm ist!

Über Twitter kommen aber auch Fragen. Zum Beispiel: Ihr wisst seit 10 Jahren, daß der Bahnhof weg soll, warum demonstriert ihr erst jetzt?
Es gab Unterschriftensammlungen, Petitionen usw. Und was hätte man denn sonst noch früher unternehmen sollen? Sich acht Jahre lang an Bäume ketten und auf den Tag X warten?

Die öffentl. rechtliche Presse hatte auf dem Schloßparkgelände keinen Zutritt. Inzwischen ist mir auch klar, warum nicht. Es käme am Abendbrottisch nicht so gut, die Bilder sehen zu müssen, die jetzt im Internet stehen, die Videos bei youtube. War die Baden-Württembergische Landesregierung so naiv zu glauben, sie könnten friedliche Demonstranten und Schüler verprügeln, ohne daß es jemand merkt??? Und sie WAREN friedlich, sind es immer noch! Es gibt bisher EIN EINZIGES Foto, auf dem ein Demonstrant einen Stuhl wirft. Allerdings ist weit und breit niemand in der Nähe, der getroffen werden könnte. Weder Mann, Frau, Kind, Baum oder gar Ordnungshüter. Dieses eine Bild soll die Gewaltbereitschaft der Demonstranten belegen und steht einsam gegen hunderte von Bildern massivster, unangebrachter Polizeigewalt!
Dazu habe ich seit Stunden noch eine ganz andere Frage: die „deeskalierend wirkenden“ Herren in Schwarz waren so gut wie alle vermummt. Dieses Outfit soll einerseits den Träger vor Verletzungen schützen, andererseits aber auch seine Identität. Nur einer zeigte sehr offen sein Gesicht: schwarzes, schwer bewaffnetes Outfit, keine Kopfbehaarung sichtbar. Es macht irgendwie den Eindruck, als WOLLTE er erkannt werden. Auf FB gibt es eine Seite über ihn, die einem Steckbrief ähnelt: Wer kennt ihn? Finde ich keine gute Aktion, nebenbei bemerkt. Ausserdem, DAS Gesicht kennt doch jeder in Deutschland inzwischen! Hat er doch selbst schon für gesorgt…. Ich frage mich die ganze Zeit über, warum? Selbst ohne eine deutliche Kennzeichnung ist es sehr einfach, diesen Mann zu identifizieren. WENN es zugelassen wird. WENN er sich nämlich sicher sein kann, daß sein Handeln abgesegnet ist, wird er geschützt, selbst wenn JEDER weiß, wer er ist.
Und ich frage mich, wie ein Herr Rech und ein Herr Mappus angesichts der Bilder und Videos, die inzwischen JEDER gesehen hat, in den Medien immer noch so atemberaubend lügen können?

Was ich mich allerdings jetzt nicht mehr frage ist folgendes:
Sparpaket? Wann reicht es den Bürgern?
Hartz IV? Wann reicht es den Bürgern?
Energiekostenschraube? Wann reicht es den Bürgern?
Atomlüge? Wann reicht es den Bürgern?
Gesundheitspolitik, Sozialabbau, Datensammlung?
JETZT! JETZT reicht es! Es geht schon lange nicht mehr „nur“ um einen Bahnhof und Bäume. Wer das denkt, hat etwas elementares nicht verstanden. Es geht darum, daß der Bogen von unserer Regierung inzwischen dermassen überspannt ist, daß der Stuttgarter Bahnhof zum Symbol für alles steht, was den Bürgern jetzt reicht!

Text Sei wachsam (Reinhard Mey)

Ein Wahlplakat zerrissen auf dem nassen Rasen,
Sie grinsen mich an, die alten aufgeweichten Phrasen,
Die Gesichter von auf jugendlich gemachten Greisen,
Die Dir das Mittelalter als den Fortschritt anpreisen.
Und ich denk’ mir, jeder Schritt zu dem verheiß’nen Glück
Ist ein Schritt nach ewig gestern, ein Schritt zurück.
Wie sie das Volk zu Besonnenheit und Opfern ermahnen,
Sie nennen es das Volk, aber sie meinen Untertanen.
All das Leimen, das Schleimen ist nicht länger zu ertragen,
Wenn du erst lernst zu übersetzen, was sie wirklich sagen:
Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:
Halt du sie dumm, – ich halt’ sie arm!

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Du machst das Fernsehen an, sie jammern nach guten, alten Werten.
Ihre guten, alten Werte sind fast immer die verkehrten.
Und die, die da so vorlaut in der Talk-Runde strampeln,
Sind es, die auf allen Werten mit Füßen rumtrampeln:
Der Medienmogul und der Zeitungszar,
Die schlimmsten Böcke als Gärtner, na wunderbar!
Sie rufen nach dem Kruzifix, nach Brauchtum und guten Sitten,
Doch ihre Botschaft ist nichts als Arsch und Titten.
Verrohung, Verdummung, Gewalt sind die Gebote,
Ihre Götter sind Auflage und Einschaltquote.
Sie biegen die Wahrheit und verdrehen das Recht:
So viel gute alte Werte, echt, da wird mir echt schlecht!

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Es ist ‘ne Riesenkonjunktur für Rattenfänger,
Für Trittbrettfahrer und Schmiergeldempfänger,
‘ne Zeit für Selbstbediener und Geschäftemacher,
Scheinheiligkeit, Geheuchel und Postengeschacher.
Und die sind alle hochgeachtet und sehr anerkannt,
Und nach den schlimmsten werden Straßen und Flugplätze benannt.
Man packt den Hühnerdieb, den Waffenschieber läßt man laufen,
Kein Pfeifchen Gras, aber ‘ne ganze Giftgasfabrik kannst du kaufen.
Verseuch’ die Luft, verstrahl’ das Land, mach ungestraft den größten Schaden,
Nur laß dich nicht erwischen bei Sitzblockaden!
Man packt den Grünfried, doch das Umweltschwein genießt Vertrau’n,
Und die Polizei muß immer auf die Falschen drauf hau’n.

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!

Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Wir ha’m ein Grundgesetz, das soll den Rechtsstaat garantieren.
Was hilft’s, wenn sie nach Lust und Laune dran manipulieren,
Die Scharfmacher, die immer von der Friedensmission quasseln
Und unterm Tisch schon emsig mit dem Säbel rasseln?
Der alte Glanz in ihren Augen beim großen Zapfenstreich,
Abteilung kehrt, im Gleichschritt marsch, ein Lied und heim ins Reich!
„Nie wieder soll von diesem Land Gewalt ausgehen!“
„Wir müssen Flagge zeigen, dürfen nicht beiseite stehen!“
„Rein humanitär natürlich und ganz ohne Blutvergießen!“
„Kampfeinsätze sind jetzt nicht mehr so ganz auszuschließen.“
Sie zieh’n uns immer tiefer rein, Stück für Stück,
Und seit heute früh um fünf Uhr schießen wir wieder zurück!

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Ich hab’ Sehnsucht nach Leuten, die mich nicht betrügen,
Die mir nicht mit jeder Festrede die Hucke voll lügen,
Und verschon’ mich mit den falschen Ehrlichen,
Die falschen Ehrlichen, die wahren Gefährlichen!
Ich hab’ Sehnsucht nach einem Stück Wahrhaftigkeit,
Nach ‘nem bißchen Rückgrat in dieser verkrümmten Zeit.
Doch sag die Wahrheit und du hast bald nichts mehr zu lachen,
Sie wer’n dich ruinier’n, exekutier’n und mundtot machen,
Erpressen, bestechen, versuchen, dich zu kaufen.
Wenn du die Wahrheit sagst, laß draußen den Motor laufen,
Dann sag sie laut und schnell, denn das Sprichwort lehrt:
Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd.

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!